Die Emscher-Region erfindet sich neu

Ein Essay von Prof. Dr. Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender von Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV).

Autor

Prof. Dr. Uli Paetzel, Vorstandsvorsitzender von Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV).

Das Foto zeigt den Vorstandsvorsitzenden von Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV) Prof. Dr. Uli Paetzel in der renaturierten Emscher in Dortmund.
© Henning Maier-Jantzen/EGLV

Essay

Die Emscher-Region hat in den letzten Jahrzehnten einen tiefgreifenden Strukturwandel erlebt. Dies hat sie vor große Herausforderungen gestellt, aber ihr wurde auch die Möglichkeit für Veränderungen und Erneuerungen geboten.

Das Sterben von Zechen und Stahlwerken hat die Emscher-Region in den 1980er Jahren hart getroffen. Dies führte zu einem massiven Verlust von Arbeitsplätzen und einem wirtschaftlichen Abschwung. Die Arbeitslosigkeit stieg auf Rekordhöhe und viele Familien waren von Armut betroffen. Klar war: Die Region musste sich neu erfinden und neue Wege finden, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein.

Wichtigster Meilenstein bei diesem Transformationsprozess war die IBA Emscherpark zwischen 1989 und 1999. Sie umfasste 17 Städte und Gemeinden entlang der Emscher und es wurden über 100 Projekte realisiert, insbesondere im Rahmen der Nachnutzung ehemaliger Industriegebäude. Die IBA Emscherpark gilt heute als Vorreiter für den Strukturwandel in der Region und hat maßgeblich dazu beigetragen, das Image des Ruhrgebiets zu verändern.

Ein weiteres zentrales Beispiel für solche Initiativen ist der Emscher-Umbau. Der Fluss, der seit mehr als 120 Jahren zur oberirdischen Entsorgung der Abwässer der Region genutzt wurde, wurde von Abwasser befreit und entlang der rund 350 km Gewässerläufe wurde ein Renaturierungsprozess initiiert.

Aus fachlicher Sicht haben wir es beim Emscher-Umbau mit dem größten wasserwirtschaftlichen Renaturierungsprojekt der Welt zu tun und mit einem der größten Infrastrukturvorhaben in Deutschland. Und dieses Projekt schafft Mehrwerte für die Region: Studien haben gezeigt, dass die Investition von rund 5,5 Mrd. Euro in den Emscher-Umbau einen ökonomischen Impact von rund 13,2 Mrd. Euro erzeugt hat und rund 44.000 Arbeitsplätze geschaffen oder erhalten hat. Dieser ökonomische Effekt kam für die Bauwirtschaft im Ruhrgebiet zu einer sehr schwierigen Zeit nach der Finanzkrise Ende der 2000er Jahre, die viele Unternehmen nicht nur hier in der Region hart getroffen hat. Es sorgte im Ruhrgebiet für einen deutlich spürbaren Impuls und stützte die Kaufkraft vieler Bürgerinnen und Bürger im Revier.

Gleichzeitig zeigen sich schon jetzt,kurze Zeit nachdem zum Jahreswechsel 21/22 kein Abwasser mehr eingeleitet wird: der Umbau hat sich gelohnt, die Natur kehrt in und an das Gewässer zurück. Schon jetzt konnten bereits über 1.000 verschiedene Arten erfasst werden. Insekten, Schnecken, Muscheln, Krebse und auch vom Aussterben bedrohte Tiere wie Eisvögel oder Blauflügelige Prachtlibellen. Es zeigt sich, dass Biodiversität und Artenvielfalt in einer solch dicht bebauten Industrieregion keinen Widerspruch darstellen, sondern miteinander vereint werden können.

Bürgerinnen und Bürger entdecken zunehmend die Emscher als Ort der Naherholung. Radtourismus an der Emscher wird plötzlich ein ernstzunehmendes Thema. Mit dem Ausbau unserer Wege am Gewässer ist es uns möglich, neue Angebote für eine nachhaltige Mobilität mit dem Rad zu schaffen. Durch unsere blauen Klassenzimmer werden ehemalige Schmutzwasserläufe zu Orten, wo Bildungsangebote stattfinden können und sogar das Thema „Wohnen am Wasser“ gewinnt auch an der Emscher an Attraktivität.Die Emscher wird von einem Ort, der von den Bürgerinnen und Bürgern gemieden wird, zu einem attraktiven Ziel für die Naherholung. Vom Hinterhof der Region zu ihrem Vorhof.

Auf dem Weg in die Zukunft

Wir stehen in Verantwortung für unsere Kinder und Enkel, unsere Region zu einer klimaneutralen, klimaresilienten und nachhaltigen Region zu machen. Wir müssen dabei jedoch auch eine soziale Region bleiben, eine Region der Solidarität, des Respekts, des Zusammenhalts und der politischen Partizipation, in der möglichst alle Menschen das Gefühl haben können, dass ihre Stimme gehört wird und etwas zählt.

Doch genau wie damals scheint der Weg noch weit, diese Herausforderung sehr groß: Der CO2-Ausstoß pro Kopf liegt im Ruhrgebiet rund doppelt so hoch wie im Rest des Landes. Wir sind eine Industrieregion, in der viele energieintensive Unternehmen produzieren und erfolgreich sind. Wir müssen daher auch Vorbild sein für eine nachhaltige Energieproduktion, unsere Potenziale im Bereich der Erneuerbaren heben, und wir müssen Vorbild sein für einen effizienten Umgang mit Energie.

Wir haben ein Mobilitätssystem im Ruhrgebiet, das den Ansprüchen einer Metropolregion nicht gerecht wird. Noch zu oft sind die Bürgerinnen und Bürger auf ihr eigenes Auto angewiesen, weil Alternativen zu unattraktiv sind, sei es im ÖPNV oder in der Nahmobilität durch attraktive und sichere Radwege.

Die Herausforderungen auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft, auf dem Weg zur grünsten Industrieregion der Welt sind groß. Wir als Emschergenossenschaft und Lippeverband sehen uns als technischer Dienstleister für die Region, der ausgehend von seinen wasserwirtschaftlichen Aufgaben, seine Unterstützung bei weiteren infrastrukturellen Herausforderungen in den Mitgliedskommunen einbringen kann, um unsere Region voranzubringen, um sie klimaneutral und nachhaltig zu machen.

Dies tun wir bereits im Bereich der Klimafolgenanpassung. Dort haben wir im Rahmen der vergangenen Ruhr-Konferenz gemeinsam mit dem Umweltministerium ein Großprojekt initiiert, bei dem wir zusammen mit den Städten im Revier bis 2030 rund 250 Mio. Euro für Vorhaben zur Klimafolgenanpassung im Ruhrgebiet investieren werden. Wir möchten Flächen entsiegeln, mehr Regenwasser lokal versickern lassen, mehr kühlende Verdunstung schaffen, Gründächer fördern und mehr Platz für Bäume bieten.

Darüber hinaus werden wir in den kommenden Jahren den Hochwasserschutz in der Region weiter verbessern. Dazu gehören sowohl der Ausbau von Deichen als auch die weitere Renaturierung der Gewässer und die Schaffung von mehr Raum für den Fluss, sodass bei schweren Unwettern mehr Wasser aufgenommen werden kann.

Gemeinsam mit unseren Mitgliedskommunen an Emscher und den Nebenläufen möchten wir strukturiert die Mehrwerte im Bereich Mobilität, Naherholung und blau-grünes Wohnen in Pilotprojekten heben. Wir möchten gemeinsam Quartiere an der Emscher attraktiver und nachhaltig machen, blau-grüne Gewerbegebiete der Zukunft planen und neue Radwege bauen, um eine nachhaltige Mobilität von morgen zu ermöglichen.

Und wir möchten das Thema Partizipation weiterdenken. Menschen wenden sich von der Politik ab, wenn sie kein Gefühl der Selbstwirksamkeit und Anerkennung haben. Mit einer neuen Genossenschaft, der Allmende Emscher-Lippe, werden wir die Vorteile der neuen Emscher für die Bürgerinnen und Bürger erlebbar machen. Es werden neue Mitmach-Weinberge entstehen, Projekte der „Solidarischen Landwirtschaft“ gegründet werden, wie Obstanbau, Imkereien und Naturschutz zum Mit-Anpacken sowie neue Bildungs- und Freizeit-Angebote entwickelt. Die Emscher soll für alle erlebbar werden. Wir möchten den Menschen und der Region nach 170 Jahren den Fluss zurückgeben und dazu beitragen, unsere Region nachhaltiger und lebenswerter zu machen.